BERNS MÄCHTIGE ZEIT

Kritik an einem historischen Buch, das noch nicht erschienen ist.

Mai 2005


Das Buch ist unterdessen erschienen. Die Kritik von 2006 findet sich unter:

Berns mächtige Zeit: Kritik an zwei angeblich geruhsamen Jahrhunderten von Berns Geschichte


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Wappenscheibe eines Ritters Wilhelm von Diesbach aus Worb, datiert "1521"

Aus: Berns große Zeit, 1999, Seite 399


Die Ausgangslage: Das Geschichtswerk Berner Zeiten

Berns Geschichte wird mit seltener Gründlichkeit regelmäßig neu aufgearbeitet. Nach Richard Fellers Geschichte Berns in vier Bänden (1946 - 1960), erschien zu Beginn der 1980er Jahre die Illustrierte Berner Enzyklopädie in vier Bänden.

Und seit 1999 ist wieder ein monumentales Werk über Berns Vergangenheit im Tun. Die Reihe nennt sich Berner Zeiten und will in gewichtigen Bänden die ganze Geschichte von der Urzeit bis zur Gegenwart darstellen.

Wohl bekomm's über so viel Wagemut!

Erschienen sind von diesem Gewaltwerk bisher Berns große Zeit (1999) und Berns mutige Zeit (2003). - Für 2006 ist Berns mächtige Zeit angekündigt. - Und letzteres, noch nicht erschienenes Werk soll hier skizziert werden.

Die erschienenen Bände Berns große Zeit und Berns mutige Zeit

Der 1999 erschienene erste Band Berns große Zeit hinterläßt ein mulmiges Gefühl: Soviel Einzelheiten für ein so fernes Jahrhundert!

Der 2003 erschienene Band Berns mutige Zeit ist ein einziges Ärgernis: Noch mehr als in Berns großer Zeit wird hier ein Nicht-Ort in einer Nicht-Zeit dargestellt, als gäbe es keine Probleme bei den Quellen und der Chronologie. - Jegliche kritische Distanz ist bewußt exstirpiert worden. - Das Werk soll bedingungslosen Glauben, nicht aber Zweifel vermitteln.

Mit dem letzteren Buch habe ich mich in dem Artikel Berns mutige Zeit auseinandergesetzt. In dem neuen Buch Bern und die alten Eidgenossen (2012) kritisiere ich die Bände in dem Kapitel Von Berns großer zu Berns mutiger Zeit oder der Bankrott der Berner Geschichtswissenschaft .

Die Bände sind als Sammelwerke angelegt. Ein Redaktionsteam bestimmt die Richtlinien der Bände und koordiniert die einzelnen Beiträge. Einige Autoren verfügen über ein gutes Wissen über die Geschichte Berns und prägen den Inhalt. Aber dazwischen gibt es Dutzende von Mitarbeitern mit kleineren und größeren Beiträgen zu Einzelthemen. Die Bände bieten deshalb keine zusammenhängenden Darstellungen, sondern nur Aspekte der fraglichen Zeiten.

Bei Berns mutiger Zeit habe ich herausgefunden, daß sich die Herausgeber Überlegungen zur Darstellung gemacht haben. - Eine geheime Blaupause wird sichtbar. Als hauptsächliche Absicht tritt die bereits erwähnte Geschichtsgläubigkeit hervor. Durch diese sollen Zweifel gar nicht erst aufkommen.

Die redaktionellen Grundsätze und die Gestaltung der beiden erschienenen Bände werden sicher auch in den Folgebüchern beibehalten. Auf Grund dieser Prämissen läßt sich deshalb bereits etwas zum Inhalt des nächsten Bandes sagen.

Die Entstehung Berns als Erkenntnisproblem

In meinen Artikeln und Büchern, besonders in dem erwähnten Bern und die alten Eidgenossen, weise ich nach, daß unsere sicheren Geschichtskenntnisse erst mit dem 18. Jahrhundert einsetzen. Die Schriftlichkeit und unsere heutige Anno Domini-Zeitrechnung entstanden damals. - Aber die wahre Geschichte mit ihren Daten und Inhalten wird  nur sehr langsam plausibel.

Real werden unsere Geschichtskenntnisse in inhaltlicher und chronologischer Hinsicht erst etwa in der Zeit zwischen 1770 und 1780. - Alles Vorherige ist unsicher und bald einmal absurd.

Die Schriftlichkeit der ersten 50 Jahre, also etwa zwischen 1740 und 1780 ist größtenteils eine Erfindung, stellt nicht glaubwürdige Geschichte dar.

Aber in jener Zeit wurde ein grandioses Gemälde der Geschichte und historischer Epochen geschaffen, das zu Beginn des 18. Jahrhunderts noch unbekannt war.

Als Folge haben wir heute eine mehrtausendjährige Antike und ein tausendjähriges Mittelalter vor uns, das es so nicht gegeben hat. Sogar die frühe Neuzeit mit der Reformation und Gegenreformation ist eine Erfindung der Grossen Aktion.

Also gab es keine "Gründung Berns 1191", so wenig wie eine "Gründung der Eidgenossenschaft 1291".

Es gab vor der sicheren Geschichtszeit natürlich ebenfalls menschliche Kultur. Aber von dieser wissen wir nichts Genaues. Wir können nur Mutmaßungen und Schätzungen anstellen.

Sicher ist nur, daß die heute geglaubten Zeiträume fiktiv und absurd sind: Die gesamte Hochkultur ist sicher erst vor vielleicht fünfhundert Jahren entstanden. - Der Mörtel als revolutionäres Bindemittel wurde dort erfunden, wo wir heute das "17. Jahrhundert" sehen - vielleicht etwa 350 Jahre vor heute.

Alle Indizien deuten auf einen schnellen, teilweise sogar dramatisch raschen kulturellen Wandel vor dem Anfang der Geschichte hin.

Die Bauepochen "Römerzeit", "Romanik" und "Gotik", auch die "Renaissance", lassen sich zeitlich nur schwer fassen. - Teilweise müssen wir sogar von einer ungefähren Gleichzeitigkeit ausgehen.

Aus diesen Gründen ist es unmöglich, Geschichte und Kulturgeschichte vor dem 18. Jahrhundert zu schreiben. - Wir können nur Vermutungen anstellen. Ignoramus et ignorabimus.

Berns dunkle Vorgeschichte

Aus dem vorangehenden Erläuterungen wird klar, weshalb die älteren Bände des Geschichtswerkes Berner Zeiten einen gewaltigen Unfug darstellen: Die Entstehung der Stadt liegt im Dunkeln. Aus Artefakten und baugeschichtlichen Zeugnissen können wir wohl eine Kulturgeschichte erahnen, aber nicht darstellen.

Und vor allem müssen die Ursprünge, die "Keltenzeit" oder die "gallorömische Zeit" viel später auf der Zeitschiene gesehen werden. Vielleicht lassen sich alte Spuren einem "17. Jahrhundert" zuweisen. - Aber die meisten Zeugnisse, die wahren Ursprünge des "mittelalterlichen" oder besser gesagt neuzeitlichen Berns reichen nur bis ins 18. Jahrhundert zurück.

Berns mächtige Zeit wird wie die ersten beiden Bände (Berns große Zeit, Berns mutige Zeit) Zeiträume behandeln, die nicht existiert haben.

Berns mächtige Zeit: die vermutlichen Tendenzen

Die Autoren und Herausgeber werden wohl auch in dem neuen Band jeden Zweifel an dem bisherigen falschen Geschichtsbild und an der absurden Chronologie zu vermeiden suchen: Bern bleibt Bern.

Also wird es eine Berner Reformation "in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts geben. In der gleichen Zeit wird man die Eroberung der Waadt durch Hans Franz Nägeli abhandeln. - Und in der Mitte des 17. Jahrhunderts wird dem Bauernkrieg von "1653" und dem Ersten Villmerger Krieg von "1656" viel Platz eingeräumt werden.

Aber diese geschichtlichen Fakten sind dürftig, wenn man sie mit der alteidgenössischen und bernischen Heldenzeit des "Spätmittelalters" vergleicht. - Die Schlacht von Laupen war etwas ganz anderes als die kurze und weitgehend unblutige Besetzung der Waadt "1536".

Und die Herausgeber von Berns mächtige Zeit werden mit einem besonderen Problem konfrontiert werden: Weil sie alle baulichen und schriftlichen Zeugnisse gemäß der konventionellen Sicht einordnen, haben sie bereits einen Grossteil ihres Materials für die ersten beiden Bände verbraucht.

Anders herum ausgedrückt: Mit den beiden bereits publizierten Büchern haben die Autoren und Herausgeber auf 1300 Seiten fast alles aufgeführt und behandelt, was gemäß einer neuen Sicht der Vorgeschichte in die Zeit nach 1700 gehört.

Der Kreis der Herausgeber wird mit dem lästigen Umstand zu kämpfen haben, daß sich in Berns mächtige Zeit viel zu wenig Material und echte Geschichte wird finden lassen. - Besonders das Jahrhundert zwischen "1550 und 1650" wird für die Autoren wohl zu einer wahren Crux werden: Was soll man über eine Epoche schreiben, über die es nichts Bedeutendes zu sagen gibt?

Alle Dinge, die in Wahrheit kurz vor der Schwelle zur Geschichtszeit anzusetzen sind, wurden schon gebraucht, um ferne und fiktive Zeitalter mit Inhalt zu füllen.

Der Münsterbau ist schon in Berns großer Zeit erschöpfend abgehandelt worden, denn er gehört ja ins "15. Jahrhundert".

Die gotische Predigerkirche wurde sogar schon für Berns mutige Zeit beschlagnahmt: Dies soll ein Bau aus der Zeit "um 1300" sein!

Alle Burgen und Wehrbauten Berns sind ebenfalls bereits dargestellt worden.

Die Chroniken Berns von Justinger über Tschachtlan bis Schilling, sind nach den Herausgebern Schöpfungen der großen Zeit Berns. - Auf sie wird man nicht zurückgreifen können.

Besonders in Berns mutiger Zeit wurde bereits fast der gesamte Bilderschatz von Diebold Schillings Spiezer Chronik reproduziert. Und die Herausgeber werden wohl nicht eingestehen, daß diese Illustrationen - gleich wie die erwähnten Chronisten - aus der Zeit nach 1750 stammen.

In Berns großer Zeit haben die Herausgeber bereits kräftige Vorgriffe in die Geschichte und Kunstgeschichte der Reformationszeit gemacht. - Niklaus Manuel Deutsch wurde bereits abgehandelt.

Ja, was soll man da noch behandeln, was aus der Geschichtskiste hervorholen?

Das 17. Jahrhundert war nach Richard Feller eine dürftige Zeit, die keinen Vergleich mit den künstlerischen und literarischen Leistungen der zweiten Hälfte des 15. und der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts aushält. - Wie soll man dieses rätselhafte Absacken der Leistungen erklären, mit welchen Fakten überkleistern?

Gewiß kann man die künstlerische Bedeutung eines Albrecht Kauw würdigen. - Aber viele von seinen Burgenbildern sind schon für die Illustrierung der ersten beiden Bände benutzt worden. - Und seit Georges Herzogs Kauw-Monographie gibt es über diesen Maler wohl kaum viel mehr zu sagen.

Auch kann man auf den Künstler Wilhelm Stettler eingehen. Dieser hat vielleicht um 1770 die ersten realistischen Gassenansichten Berns gezeichnet.

Bei Albrecht Kauw wie bei Wilhelm Stettler wird ein Problem bestehen bleiben: Wie kann man erklären, daß zwei Künstler des 18. Jahrhunderts gut sein sollen, um eine angeblich mehrhundertjährige Vergangenheit Berns zu illustrieren?

Albrecht Kauw ist erst um 1760/70 plausibel, wie ich in einem Artikel nachweise.

Man wird auch auf die Schanzen Berns eingehen. Diese sternförmigen Befestigungsanlagen der Stadt gegen Westen wurden nach herrschender Chronologie in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts erbaut. - Richtig aber gehören sie in das mittlere 18. Jahrhundert.

Auch wird in Berns mächtiger Zeit viel stehen über die Wohnschlösser, welche sich die Patrizier im Umland erbauen ließen. - Von Toffen über Utzigen bis Wittikofen wird sicher kein Objekt fehlen.

Aber die bedeutenden Bürgerhäuser, etwa das May-Haus mit dem charakteristischen Erker an der Münstergasse in Bern, wurden bereits für das 15. Jahrhundert beansprucht. - Die Darstellung des Bürgerhauses wird also notgedrungen fragmentarisch werden.

Und sogar der Skulpturenfund von der Münsterplattform in Bern ist bereits abgehandelt. - Die wertvollsten Artefakte einer Glaubensspaltung - die unzweifelhaft in die Zeit weit nach 1700 zu setzen sind - werden also für die Darstellung ebenfalls nicht mehr zu brauchen sein.

Auch in diesem Band werden die Kunsthistoriker und Archäologen das Heft in der Hand halten. - Schließlich liefern diese für Baureste und Artefakte pseudopräzise Daten und stützen so die irreale Geschichts-Konstruktion.

Und bis zum Geht-nicht-mehr wird vermutlich die kopernikanische historische Wende der Berner Reformation abgehandelt. - Wie üblich werden dabei wohl die gröbsten Widersprüche ausgeblendet.

Man wird sicher viel über den Berner Reformator Haller reden. - Aber die Frage, weshalb diese Figur den Vornamen BERCHTOLD trägt, bleibt wohl unbeantwortet.

Nochmals: Was bleibt da noch übrig zum Erzählen oder Darstellen? Welche Illustrationen lassen sich für Berns mächtige Zeit noch gebrauchen, die noch nicht in den vorherigen Bänden verwertet sind?

Valerius Anshelm und Michael Stettler

In  meinem Buch Die alten Eidgenossen (2013) behandle ich ausführlich die älteste Berner Geschichtsschreibung. Dort ist die wichtigste Figur der angebliche "Justinger". - Aber dieser wird ins "15. Jahrhundert" gesetzt, kann also für Berns mächtige Zeit nicht mehr gebraucht werden.

Aber es gibt zwei bedeutende Geschichtsschreiber Berns, welche in die besagten zwei Jahrhunderte fallen und deshalb ausführlich beleuchtet werden: Für das "16. Jahrhundert" ist dies Valerius Anshelm, für das 17. Jahrhundert Michael Stettler.

Über diese beiden Historiographen gibt es eine Vorschau:

In der Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde ist in der 1. Nummer 2005 ein Artikel Wir sind willens ein kronick beschriben ze lassen. Bernische Geschichtsschreibung im 16. und 17. Jahrhundert erschienen.

Der Beitrag stellt wohl einen Auszug aus dem zukünftigen Sammelband dar. Ausführlich werden dort Anshelm und Stettler dargestellt.

Vor allem werden die verblüffenden Vergleiche zwischen der Geschichtsauffassung der beiden Chronisten aufgelistet.

Bereits in der ersten Version meiner kritischen Darstellung über Bern und die alten Eidgenossen bin ich auf die inhaltliche und sogar biographische Verwandtschaft zwischen den angeblich durch Jahrhunderte getrennten Chronisten Justinger, Anshelm und Michael Stettler eingegangen.

Meine Schlußfolgerung ist, daß der Letztgenannte, also Stettler, in Tat und Wahrheit der erste Geschichtsschreiber Berns darstellt. Dieser hat alle früheren Autoren veranlaßt und hergestellt. - Alle Wege führen zu Michael Stettler irgendwann um die Mitte des 18. Jahrhunderts.

In dem erwähnten Artikel  werden die Vergleiche zwischen Anshelm und Stettler sehr genau und fast erschöpfend aufgeführt. - Aber eine Folgerung wird nicht gezogen.

Der Leser muß nach der Lektüre des Beitrages den Eindruck haben, daß bei aller Verwandtschaft zwischen den beiden Chronisten diese doch zwei unabhängige Personen waren, durch einen Zeitabstand von hundert Jahren voneinander getrennt.

Das Beispiel ist typisch für die offizielle Forschung: Sie stellt einzelne Fakten fest, blendet aber die logischen Folgen aus den gewonnenen Erkenntnissen aus. - Schließlich darf nicht sein, was eigentlich nahe liegt.

Bern muß Bern bleiben. Also wird zum wievielten Mal der gleiche Stumpfsinn wiederholt: Die Stadt wurde "1191" von Herzog Berchtold von Zähringen gegründet und erlebte eine mutige Zeit im 13. und 14., eine große Zeit im 15. und eine mächtige Zeit im 16. und 17. Jahrhundert.

Die Herausgeber und wichtigsten Schreiber an diesem geplanten Buch wissen von der Fragwürdigkeit dieser historischen Unternehmung. Das beweist schon das hochgestochene und pseudowissenschaftliche Kauderwelsch, das sie in der Vorankündigung brauchen:

Von „Berns mächtiger Zeit“ zu sprechen, heißt, daß angesichts der Ambivalenz der Kategorie Macht und angesichts der Tatsache, daß Macht nie einfach gegeben ist, sondern permanent behauptet und realisiert werden muß, auch die Brüchigkeit und Prekarität von Machtansprüchen, die Vielschichtigkeit von Machtausübung, der Zwang zur Legitimation von Machtpositionen und die Fragwürdigkeit bernischer Machtentfaltung behandelt werden müssen.

Berns universitäre Geschichtswissenschaft stellt wirklich eine mächtige Macht dar!