James Fenimore Cooper

Der Scharfrichter von Bern oder das Winzerfest

(The Headsman; or, The Abbaye des Vignerons)

Motto:

How oft the sight of means to do ill deeds
Makes deeds ill done!

 Wie oft hat die Gelegenheit zum Bösen das Böse selbst erzeugt!

Shakespeare, König Johann, IV

James Fenimore Cooper ist der berühmte Autor der Lederstrumpf-Geschichten. – Nur wenige wissen, daß der amerikanische Schriftsteller auch Europa besucht und darüber drei Romane veröffentlicht hat.

1828 wohnte Cooper mit seiner Familie für einige Monate in Bern und bereiste die Schweiz. - 1832 hielt sich der Schriftsteller einen Monat in Vevey auf. Die Frucht von Coopers  Vorliebe für den Genfersee ist der Roman mit dem merkwürdigen Titel Der Scharfrichter von Bern oder das Winzerfest, in der englischen Originalausgabe The Headsman or the Abbaye des Vignerons..

Die deutsche Übersetzung dieser spannenden Erzählung ist zum ersten Mal 1833 erschienen.

Der vorliegende Text fußt auf der Ausgabe von 1846.

Seither ist Coopers Roman vom Genfersee nie mehr auf Deutsch aufgelegt worden.

Der Autor dieser Webseite plant, die romantische Erzählung J.F. Coopers vom Scharfrichter von Bern neu herauszugeben.

Die folgenden Textmuster wurden in Sachen Orthographie und Zeichensetzung den heutigen Verhältnissen angepaßt. - Der langatmige Stil, der teilweise abenteuerlich lange Satzperioden beinhaltet, zwang manchmal auch zur Neuformulierung gewisser Passagen.

Doch im Grossen und Ganzen soll die Neuausgabe von Coopers Erzählung den Geist seiner Zeit - man kann sie Romantik, Biedermeier oder Restauration nennen - wiedergeben. So wurde auf eine radikale Umgestaltung des Textes verzichtet.

Einleitung

Zu Anfang Oktober 1832 hielt ein Reisewagen auf dem Gipfel des langen Berghanges gerade über dem Städtchen Vevey in der Schweiz, an dem sich die Strasse von der Hochebene von Moudon bis zum Wasserspiegel des Genfersees hinabschlängelt. Der Postillon war abgestiegen, um ein Rad zu sperren, und die Reisenden sahen sich durch diesen Halt in den Stand gesetzt, die liebliche Szenerie dieser bemerkenswerten Aussicht in Augenschein zu nehmen.

Die Reisenden bestanden aus einer amerikanischen Familie, welche schon lange in Europa umhergewandert war und nun ohne bestimmtes Ziel ins Blaue hinein reiste, nachdem sie auf ihren Kreuz- und Querzügen an die tausend deutsche Meilen zurückgelegt hatte. Vier Jahre früher hatte die nämliche Familie fast an demselben Oktobertage und genau mit dem gleichen Ziele vor Augen auf besagtem Punkte Halt gemacht. Damals waren sie auf der Tour nach Italien begriffen und als ihre Blicke durch die reizende Aussicht auf den See und dessen Zierden, auf Chillon, Châtelard, Blonay, Meillerie, auf die Spitzen von Savoyen und auf die wilden Alpenketten gefesselt waren, hatten sie bedauert, daß die wunderbare Szene so rasch an ihnen vorüberziehen sollte.

Jetzt war der Fall ganz anders. Man wollte nicht länger dem Zauber einer so edlen und doch so sanften Natur widerstehen. In wenigen Stunden stand der Wagen in einer Remise, ein Haus war gemietet, das Gepäck geöffnet und die Hausgötter der Reisenden wurden zum zwanzigsten Male in fremdem Land aufgestellt.

Unser Amerikaner (das Haupt der Familie meinen wir) war mit dem Ozean vertraut, und der Anblick des Wassers erweckte in ihm alte und liebliche Erinnerungen. Sobald er sich daher als ordentlicher Bewohner zu Vevey niedergelassen hatte, sah er sich auch sogleich nach einem Boot um. Der Zufall führte ihn zu einem gewissen Jean Descloux, mit dem er bald einen Handel abschloß. Und in Kürze sah man Beide zusammen in den See hinaus steuern.

Dieses zufällige Zusammentreffen bildete den Anfang eines angenehmen freundschaftlichen Verkehrs. Denn Jean Descloux besaß einen ziemlichen Vorrat allgemeiner Bildung und war neben seinen guten Eigenschaften als Bootsmann in seiner Art ein recht achtbarer Philosoph. Seine Kenntnis von Amerika besonders durfte in der Tat als ziemlich bemerkenswert gelten; er wußte, daß es ein Festland, war, westlich von seinem eigenen Weltteil gelegen; daß es einen Ort namens New Vevey enthielt; daß alle Weißen, welche dorthin gegangen, bis jetzt noch nicht schwarz geworden und daß endlich nicht wenig Hoffnung vorhanden war, das Land eines Tages noch ganz zivilisiert zu sehen.

Als der Amerikaner unseren Jean über einen Gegenstand, an welchem die Mehrzahl der östlichen Gelehrten zu Schanden wird, so klar unterrichtet fand, hielt er es für geraten, ihn auch über die anderen Materien des Näheren auszuholen. Und der würdige Bootsmann erwies sich dabei als ein Mann von ganz besonders scharfer Unterscheidungsgabe. Er verstand sich gar nicht übel aufs Wetter, wußte von den Stürmen auf dem See verschiedene Wunder zu erzählen; glaubte, die Stadt tue sehr Unrecht daran, daß sie auf dem großen Platz keinen Hafen anlege; blieb steif und fest dabei, der Wein von Saint-Saphorin sei ein ganz wohlschmeckendes Getränk, wenn man nichts Besseres bekommen könne; verlachte fortwährend den Gedanken, als ob es auf der ganzen Welt Tauwerk genug geben könne, um damit auf den Grund des Genfersees zu reichen; war der Meinung, die Forelle sei ein besserer Fisch als die Fera (der Felchen); sprach mit besonderer Mäßigung von seinen ehemaligen Herren, den Bürgern von Bern, die übrigens, wie er immer versicherte, in der Waadt auffallend schlechte Strassen unterhielten, während die um ihre eigene Stadt die besten von Europa seien, wie er sich denn auch sonst als verständiger Beobachter zeigte - kurz, der ehrliche Jean Descloux war ein treffendes Beispiel jenes hausbackenen geraden Menschenverstandes, welcher den Instinkt der Masse zu bilden scheint und den man - so will es die Mode - in solchen Kreisen zu belächeln pflegt, wo Mystifikation für Gedankentiefe, kecke Anmaßung für klaren Beweis, ein geziertes Lächeln für Witz gilt, wo man besondere persönliche Vorteile für Freiheit hält und es als eine tödliche Beleidigung der guten Sitten betrachtet, wenn einer die Andeutung wagt, Adam und Eva seien die gemeinsamen Eltern der Menschen gewesen.

Monsieur hat sich zum Besuche Veveys eine gute Zeit gewählt, bemerkte Jean Descloux eines Abends, als beide im Angesicht der Stadt dahintrieben und die ganze Szene vor ihnen weit eher einem Zaubergemälde als einem Stück unserer vielgeschmähten Erde glich: Es stürmt zuweilen an diesem Ende des Sees mit einer Heftigkeit, daß sogar die Möwen daraus verjagt werden. Nach Ablauf dieses Monats werden wir nichts mehr von Dampfbooten sehen.

Der Amerikaner warf einen Blick nach den Gebirgen. Sein Gedächtnis erinnerte ihn an etliche Stürme und Windstösse, die er selbst mit angesehen hatte, so daß er die Sprechweise des Bootsmannes für weniger übertrieben hielt, als er sie am Anfang angesehen hatte.

Wenn eure Seefahrzeuge besser gebaut wären, würden sie auch besser ausdauern, erwiderte er ruhig.

Monsieur Descloux wünschte keineswegs mit einem Kunden, der ihn jeden Abend beschäftigte und lieber in den Strömungen hinschwamm, als sich mit gekrümmtem Riemen fortrudern ließ - Streit anzufangen und bewies deshalb seine Klugheit durch folgende zurückhaltende Antwort:

Ohne Zweifel, Monsieur, meinte er, bauen Leute, die an der See wohnen, bessere Schiffe und verstehen geschickter mit ihnen zu segeln. Letzten Sommer erlebten wir hier in Vevey eine Probe, welche Sie vielleicht nicht ungern mit anhören. Ein englischer Gentleman - er soll Kapitän in der Marine gewesen sein - ließ sich zu Nizza ein Schiff bauen, das über die Berge an unseren See geschafft wurde.

An einem schönen Morgen machte er einen Ausflug nach Meillerie, und keine Ente war je leichter und flinker dahin geschwommen! Er war nicht der Mann, der von einem schweizerischen Bootsführer Rat annahm, denn er hatte die Linie passiert und Wasserhosen und Walfische gesehen! Nun gut! In der Finsternis fuhr er zurück. Da fing es an, von den Gebirgen herab zu wehen. Aber er steuerte kühn gegen das Ufer, lotete fleißig, als er dem Lande nahe kam, wie wenn er sich im Nebel nach Spithead hätte durchschlagen müssen - Hier kicherte Jean über den Einfall, in dem Léman sondieren zu wollen - während er wie ein kühner Seemann, der er ohne Zweifel auch war, unaufhaltsam dahinflog!

Und vermutlich unter dem Rümpelwerk auf dem großen Platz ans Land kam? warf der Amerikaner ein.

Monsieur ist im Irrtum! Sein Boot stieß sich an jener Felswand die Nase ein, und am andern Tag fehlte ihm ein Stück so groß wie eine Rojeklampe. Da hätte er ebenso gut den Himmel sondieren können!

Aber der See hat doch einen Grund?

Pardon, Monsieur - der See hat keinen Grund! Die See mag wohl Grund und Boden haben. Wir hier zu Lande wissen aber nicht von einem solchen.

Was half es, sich länger darüber herumzuzanken?

Monsieur Descloux sprach nun von den Revolutionen, die er erlebt hatte. Er erinnerte sich noch der Zeit, da die Waadt eine Provinz von Bern war. Seine Bemerkungen in dieser Sache lauteten ganz vernünftig und waren mit gesundem Menschenverstand wohl durchwürzt. Seine Lehre war einfache folgende:

Regiert nur einer, so tut er es zu seinem eigenen Nutzen wie zu dem seiner Schmarotzer. Regiert eine Minorität, so haben wir statt des einen viele Herren, - (Der ehrliche Jean hatte hier eine der kauderwelschen Phrasen der privilegierten Klasse aufgeschnappt, die er nun sehr sinnreich gegen diese kehrte.). - welche wir alle füttern und bedienen müssen. Regiert aber die Majorität und regiert sie auch noch so schlecht, so kann doch immer noch am wenigsten Unheil entstehen.

Daß das Volk zu seinem eigenen Schaden getäuscht werden könne, gab er zu, glaubte aber, dies werde wohl nicht so leicht stattfinden als der umgekehrte Fall, daß man es unterdrücke, wenn es ohne eigene Mitwirkung regiert werde. - In diesem Punkte zeigten sich der Amerikaner und der aus der Waadt vollkommen eines Sinnes.

Von der Politik zur Poesie war der Übergang sehr natürlich, erscheint doch die Phantasie als gemeinsames Ingredienz von beiden.

Handelte es sich von Bergen, dann war Monsieur Descloux ein echter Schweizer und erging sich mit breiter Beredsamkeit über deren Größe und Höhe, ihre Stürme und Gletscher. Der würdige Bootsmann nährte nährte so ziemlich dieselben Ansichten von der Überlegenheit seines eigenen Vaterlandes, wie sie alle diejenigen sich zu bilden pflegen, welche nie ein anderes Land gesehen haben. So verweilte er auch mit der Vorliebe eines Bürgers von Vevey bei dem Ruhme einer Winzerabtei und schien zu glauben, daß es ein höchst politischer Staatsstreich wäre, wenn man sobald wie möglich ein neues Fest veranstalten könnte. - Mit einem Wort: Die Welt und ihre Interessen wurden von den beiden Philosophen während ihres Verkehrs, der sich auf einen vollen Monat ausdehnte, ziemlich vollständig durchgesprochen.

Unser Amerikaner war nicht der Mann, der sich eine Belehrung dieser Art so leicht hätte entschlüpfen lassen. Stundenlang lag er auf den Ruhebänken in dem Boote von Jean Descloux, schaute nach den Bergen empor oder bewachte ein träges Segel auf dem See und sann nach über die Weisheit, welche er so zufällig in sich aufzunehmen bekam.

Die Aussicht war auf einer Seite begrenzt von dem Gletscher des Mont Vélan - dem nächsten Nachbarn des berühmten Grossen Sankt Bernhard-Passes - auf der anderen schweifte das Auge bis zu den lachenden Gefilden in der Umgebung von Genf. In diesen Rahmen eingeschlossen lag vor ihm eines der großartigsten Landschaftsbilder, das die Natur jemals gezeichnet. Und er gedachte der menschlichen Handlungen, Leidenschaften und Interessen, welche auf diesem Schauplatz aufgetreten sein mochten.

So kam er darauf - und in solcher Lage war die Ideenverbindung natürlich genug - sich innerhalb dieses großartigen Rahmens ein wirkliches Lebensfragment auszumalen, sich vorzustellen wie die Menschen im unmittelbaren Anschauen der Majestät ihres Schöpfers den nie ermüdenden Eingebungen solcher Eindrücke Gehör schenken mochten.

Er gedachte dabei der Analogie, welche zwischen der leblosen Natur und unseren eigenen wunderlichen Ungleichheiten stattfindet; der furchtbaren Mischung von Gutem und Bösem, woraus unser Wesen zusammengesetzt ist, so daß auch die Besten der Hölle ihren Tribut entrichten, die Schlimmsten sogar unverkennbare Spuren jenes ewigen Rechtsprinzips verraten, mit dem sie einst von Gott begabt worden. Er dachte an jene Stürme, welche zuweilen - dem See ähnlich, der in der Windstille ausruht - in unserem Wesen schlummern.

Manchmal erweckt der Trotz, jenen von den Winden gepeitschten Elementen nicht nachzugeben, die Stärke unserer Vorurteile, die Wertlosigkeit und der veränderliche Charakter der am zärtlichsten von uns gehegten Meinungen und jenes befremdliche, unbegreifliche und doch gewinnende Gemisch von Widerspruch, Trug, Wahrheit und Unrecht, das die Summe unserer Existenz voll macht. - Dies alles schwebte abwechslungsweise vor seinen Augen.

Die folgenden Blätter liefern das Ergebnis dieser Träumereien. Eine Moral daraus zu ziehen, bleibt der eigenen Einsicht des Lesers überlassen.

Ein achtbarer englischer Schriftsteller bemerkte: Alle Blätter menschlichen Lebens sind lesenswert; die weisen belehren, die heiteren zerstreuten uns, die albernen heilen den Spleen und die unklugen zeigen uns, was wir zu vermeiden haben.

Erstes Kapitel

Mit Tagesdämmern zog ich aus, - Von leichter Brise war der Genfersee gekräuselt.

Rogers

Das Jahr stand auf der Neige - um uns eines bekannten poetischen Ausdrucks zu bedienen. Der Morgen war hell und glänzend, als die schönste und rascheste Barke, welche den Léman befuhr, an dem Quai der uralten historischen Stadt Genf zur Abfahrt nach dem Waadtland bereit lag. Das Schiff hieß Winkelried, zum Andenken an Arnold von Winkelried, der sein Leben mit den Hoffnungen so großmütig dem Besten des Vaterlands geopfert und unter den bewährtesten Helden - von denen uns wohl begründete Sagen berichten - seinen verdienten Rang einnimmt.

Das Fahrzeug war zu Anfang Sommer vom Stapel gelaufen und trug an der Fockstange noch immer seinen Kranz von Immergrün mit Schleifen und Bänderstreifen reich verziert, dem Schiffspatron als vermeintliches Unterpfand des Glücks von seinen Freundinnen dargebracht.

Der Gebrauch des Dampfes und die Anwesenheit unbeschäftigter Seeleute verschiedener Nationen führen zwar in dieser für Kriegszüge so leeren Epoche allmählich auch auf den Seen der Schweiz und Italiens einzelne Neuerungen und Verbesserungen in der Schiffahrt herbei. Gleichwohl hat die Zeit sogar bis auf diese Stunde nur selten vermocht, in den Sitten und Ansichten derer, welche auf diesen Binnengewässern ihr Leben fristen, eine wesentliche Änderung hervorzurufen.

So zeigte denn auch die Winkelried die zwei schrägen, niederen Masten, die zugespitzten malerisch aufgehängten Rahen, die leichten dreieckigen Segel, die prunkvoll vorspringenden Seitengalerien der zurückweichend abfallenden Spiegel, den hohen spitzigen Schnabel mit dem ganzen sonderbaren, aber klassischen Äußeren jener Fahrzeuge, wie wir sie auf den Gemälden und Kupferstichen sehen.

An der Spitze jedes Mastes blitzte eine vergoldete Kugel. Denn höher als bis zu schlanken, wohlbalancierten Rahen verstieg man sich nicht mit den Segeln. Und eben über einem der letzteren sah man den verwelkten Blätterkranz mit seinem heiteren Schmuck in dem frischen Westwind zitternd hin und her flattern. Der Rumpf war eines so stattlichen Äußern würdig, denn bequem und geräumig hatte er ganz jene beliebige Form, wie man sie hier zur Schiffahrt brauchte.

Die Ladung, welche zum größten Teil offen auf dem weiten Deck aufgeschichtet lag, war von der Art, welche unsere Seeleute eine assortierte Fracht nennen würden und bestand hauptsächlich aus ausländischen Luxusartikeln - wie man sie damals nannte - die aber heute in jeder Haushaltung unentbehrlich geworden sind und von den Wohlhabenden unter den Bewohnern mäßig gebraucht wurden. Ferner waren Milchprodukte dabei, die für den Süden bestimmt waren.

Hierzu kamen die Effekten einer ungewöhnlich großen Anzahl Passagiere, alle mit einer Ordnung und Sorgfalt, wie ihr Wert es kaum erforderte, oben auf dem schweren Teil der Ladung aufgestaut.