Gérard Serrade

 Leere Zeiten

Logos Verlag

Berlin 1998

ISBN: 3-89722-016-4


Historische Chronologie ist ein Stiefkind der Geschichtsforschung. – Fast hat man den Eindruck, dies sei Absicht: Was bliebe von dem monumentalen Geschichtsbild für die älteren Zeiten („Altertum", „Mittelalter") übrig, wenn man dahinter käme, daß die Zeitstellungen völlig arbiträr geschaffen wurden und die heutige Anno Domini-Jahrzählung erst nach der sogenannten Gregorianischen Kalenderreform von 1582 plausibel wird?

Aber genau diese Schwachstellen beleuchtet ein neueres kleines Buch, von welchem der Rezensent erst vor kurzem durch einen Hinweis erfahren hat. Der Titel ist mit einem Untertitel verbunden, der zuerst nicht viel aussagt: Leere Zeiten oder das abstrakte Geschichtsbild. Aber beginnt man in dem 141 Seiten starken Buch zu blättern, wird das Thema bald klar.

Mit deutlichen Worten rechnet Serrade mit den konventionellen Historikern ab: Genau betrachtet, besteht unser geschichtliches Wissen hauptsächlich aus Informationen, die aus zweiter, dritter, vierter Hand stammen. Widersinnigerweise betrachten die meisten Geschichtsforscher gerade oft wiederholte Aussagen für einen Wahrheitsbeweis (S. 105).

Die interessantesten Thesen und Feststellungen finden sich dabei am Anfang und am Schluß von Serrades Werk: Das vorliegende Buch stellt den größten Teil unserer Kenntnis über Geschichte in Frage. Unser Wissen von der Vergangenheit entlarvt sich bei näherem Hinsehen als ungesichert (Vorwort, S. 7). – Man müsse wissen, daß alle Begebenheiten der Weltgeschichte nach dem Gregorianischen Kalender datiert sind, der erst 1582 eingeführt wurde. Der Autor schickt deshalb seine Hauptthese voraus, wonach er sämtliche Datumsangaben vor 1582 als eine nachträgliche Interpretation im Sinne der gregorianischen Datierung anzweifelt (Vorwort, 8).

Am Schluß des Buches unterstreicht Serrade noch einmal: Datumsangaben nach dem Gregorianischen Kalender, die in die Zeit vor 1582 fallen, müssen in Zukunft mit der größten Skepsis behandelt werden (Ausblick, 137). - Und von größter Bedeutung für die Quellenkritik ist folgende Aussage: Befreit von christlichen Vorurteilen, werden die Datumsangaben in für alt gehaltenen Dokumenten und Schriften sich als nachträgliche Fälschungen erweisen (a.a.O.).

Als Anhang auf zwei Seiten erklärt Serrade Warum 10 Tage ausfielen. Auch hier erklären die Zitate die ganze Argumentation: Bis heute konnte nicht zufriedenstellend erklärt werden, warum die Gregorianische Kalenderreform gerade 10 Tage ausfallen ließ. – Es ist leider vollkommen schleierhaft geblieben, wie und auf welche Art der alte Julianische Kalender über einen Zeitraum von über 1500 Jahren mitsamt seinen vielen Schaltjahren verwaltet worden ist (Ausblick, 140).

Serrade legt klar, daß die Beweggründe für diese Kalenderreform dunkel sind und keinerlei originale Quellen zur Verfügung stehen. Trotzdem scheint ihm ein Punkt sicher: Die päpstliche Reform hatte neben einer neuen Schaltregel vor allem eines im Sinn: Sie wollte dem ganzen Weltkreis eine neue Jahrzählung aufzwingen. Während nämlich die alte, „Julianische" Zählung mit zwei Ziffern auskam, die nur bis zu einem Jahr 82 reichten, sollten nun alle Datumsangaben mit vier Ziffern geschrieben werden. Anders gesagt war das große Ereignis jenes Datums, daß damals auf päpstlichen Befehl vom Jahr 82 auf 1582 umgestellt wurde. – Die Reform habe 82 Jahre nach der Einführung des Julianischen Kalenders stattgefunden und tilgte die Erinnerung an Julius Caesar als ersten Pontifex Maximus: Durch die erhöhte Jahreszahl konnte das Christentum und der Machtanspruch des Papstes auch durch ein hohes Alter untermauert werden (100).

Gregors Kalenderreform schuf auch ein künstliches Zeitloch von über 1500 Jahren, welches die darauf folgenden Historiographen – also etwa Scaliger, Petavius und Casaubonus – mit ihren chronologischen Systemen zu füllen versuchten.

Natürlich meint der Rezensent, daß auch die Gregorianische Kalenderreform fiktiv ist. Sie ist wohl eine katholische Reaktion auf die – ebenfalls nicht belegte – protestantische Kalenderreform von 1700/01.  

Serrades Erkenntnis ist genial. Denn tatsächlich entwickelte sich erst mit Gregors Kalenderreform der Sinn für historische Dimensionen, für Früheres und Späteres. – Und erst dadurch konnte die Grosse Aktion der Geschichtserfindung beginnen. Universalgeschichte und Chronologie wurden nun eng verbunden. – Hätte es keine Reform der Jahrzählung gegeben, so wären die alten Geschichten – etwa der Bibel oder des Altertums – für immer Märchen, Sagen und Legenden geblieben. So aber wurden sie zu angeblicher Geschichte emporgehoben und streng auf einer künstlichen Zeitschiene aus vierstelligen Jahrzahlen angeheftet.

Der Autor beläßt es nicht mit theoretischen Erörterungen. Er plädiert auch für eine Art kunsthistorische Evidenz: Den christlichen Künstlern der Renaissance boten die Geschichten der Bibel neben der antiken Mythologie eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration. – Nun aber sei vollkommen unverständlich, weshalb zur Zeit der römischen Kaiser niemand biblische Themen nutzte, die doch angeblich schon bestanden hätten.

Aus dieser kunsthistorischen Aporie wird für Serrade das erwähnte Zeitloch zwischen Entstehung der literarischen Themen und deren Darstellung einsichtig. Der Autor wird damit zu einem Befürworter einer Verkürzung der Kulturepochen und einer Elimination des Mittelalters: Man müsse die beiden Kulturepochen - die römische Antike und die Renaissance - zeitlich zusammenschieben. Die Kunst, aber auch die Entwicklung der Waffentechnik, sei nur so richtig zu verstehen, indem man darin eine einzige Epoche sehe: Was Kunst und Architektur betrifft, so kann mühelos ein ungebrochenes Zeitband wiederhergestellt werden. Stil und Qualität der künstlerischen Arbeiten aus Kaiserzeit und Renaissance bilden eine Einheit (106).

Der Rezensent ist ohne Kenntnis dieses Buches zu ähnlichen Schlußfolgerungen gekommen. Also daß die „Römerzeit" wohl erst im späten 17. Jahrhundert begann und durch ein ephemeres „Mittelalter" in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts abgelöst wurde.

Serrades kleines Werk gibt wichtige Gedankenanstöße nicht nur für eine Neuinterpretation der Gregorianischen Kalenderreform, sondern auch für die Entstehung der Jahrzählung und der heutigen historischen Chronologie. Deshalb darf man auch gewisse Schwächen in der Darstellung übersehen.

Beispielsweise entwickelt der Autor seine Vorstellungen recht langfädig aus dem Schöpfungsbericht der Genesis und den alten Vorstellungen über die Zeit. Hier wäre eine straffere Darstellung wünschenswert gewesen.

Doch die Aussagen über Wesen und Gehalt der päpstlichen Kalenderreform sind zutreffend und präzis formuliert: Der neue Kalender und die neuen vierstelligen Jahrzahlen bewirkten eine theoretische Verlängerung der Zeit und vor allem eine universelle Grundlage der historischen Datierung.

Einzelheiten runden die Argumentation von Serrade ab. Beispielsweise wird die Rolle des Buchdrucks – eine Erfindung des 18. Jahrhunderts – für die Kalenderreform hervorgehoben. – Und ebenso wichtig und von der konventionellen Wissenschaft völlig außer Acht gelassen war, daß die Gregorianische Reform und die vierstelligen Jahrzahlen ohne die neu eingeführten arabischen Zahlen unmöglich gewesen wären.

Serrades Werk liest sich leicht und schnell. Es gehört zu den noch immer wenigen in Buchform vorliegenden Werken zur Chronologiediskussion und sollte deshalb Pflichtlektüre jedes Geschichtskritikers werden.


           © Christoph Pfister, 12/2003. Ergänzungen: 1/2009