Peter Franz Joseph Müller:

Meine Ansicht der Geschichte

Düsseldorf 1814

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Ein erstaunliches, frühes Werk

der Geschichts-

und Chronologiekritik!

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NB: Der Rezensent (CP) hat das Werk von P.F.J. Müller erst spät kennengelernt. Doch hat er den Autor mit seinem Buch in die neueste Ausgabe von Die Matrix der alten Geschichte (2021) eingefügt.

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Das Buch von P.F.J. Müller ist als eines der ersten Werke zu betrachten, das die Geschichts- und Chronologiekritik im heutigen Sinne behandelt. – Das ist um so erstaunlichter, als es vor genau 200 Jahren erschienen ist.

Über den Autor Müller ist wenig bekannt. - In dem hier rezensierten Werk stellt er sich als Gerichtspräsident vor. - Der einzige über ihn erschienene Artikel stammt von Gerhard Anwander: Müller, Napoleon und der Beginn der deutschen Art, Geschichte zu schreiben; in: Zeitensprünge, 3 (2005), S. 710 ff.

Nach Meine Ansicht der Geschichte erschien vom Autor 1815 das Werk Die Ursprache und im folgenden Jahr (1816) Über das Güterwesen.

Düsseldorf, der Erscheinungsort des ersten Buches, gehörte bis 1814 zum napoleonischen Machtbereich. So verstehen sich die Erwähnungen von Napoleon.

Das Werk wirkt erstaunlich modern für jene Zeit. Die geschichtsanalytischen Bemerkungen sind luzide und leicht verändert noch heute zu gebrauchen.

Allerdings ist die historische Analyse bei Müller nicht Selbstzweck. Es geht ihm vielmehr darum, eine bestimmte These zu belegen. – Hier wird Meine Ansicht der Geschichte einseitig und diskutabel.

Gleich in der Vorrede sagt Müller, daß er dieses Buch nicht im Fluge geschrieben, er deshalb auch nicht im Fluge beurteilt werden wolle.

Gleich darauf attackiert Müller den verrufenen geschichtlichen Glauben. Dieser sei ein Machtanspruch, der jede Selbstprüfung verhindere.

Doch auch der Autor behauptet von sich, daß er alles aus geschichtlichen Quellen geschöpft habe.

Und gleich kommt er zu seiner ersten quellenkritischen Feststellung: Mehrere zuvor für echt gehaltene Schriften sind nachher als unecht anerkannt worden. Die Geschichte kann deshalb nicht unbedingt für wahr angenommen werden.

Gleich darauf kritisiert Müller die Mehrheit der Gelehrten, die meinen, alles aus dem Handbuch für wahr zu halten und eigenes Denken und Forschen vernachlässigen zu können. Wer letzteres tue, der glaube getrost an die 3000-jährige Geschichte der Griechen und Römer und schäme sich des wildtierischen Zustandes unserer unrühmlichen Voreltern – der Deutschen.

Zuerst glaubt Müller an einen Urbund, ein einziges Menschengeschlecht mit einer einzigen Sprache. – Und der Autor hält dafür, daß sich letztere im Deutschen wiederfinde.

Eben so merkwürdig ist Müllers Auffassung, dieser Urbund sei durch das nachfolgende Oberpriestertum in Avignon durch eine weltweite kriegerische Umwälzung in mehrere Teile, darunter ein Ostreich und Westreich zerfallen.

Eher diskutabel mutet Müllers Auffassung an, die neue Herrschaft in Rom sei ein Teil einer Verschwörung gewesen. – Man erkennt dahinter eine Ahnlehnung an die biblische Geschichte vom Turmbau zu Babel mit der nachfolgenden Zersplitterung der Völker und Sprachen.

Die Zersplitterung ist nach Müller zu Gunsten Frankreichs geschehen. Dieses habe Rom eingenommen und unter Karl dem Grossen eine neue Monarchie geschaffen. In einer kühnen Verkürzung sieht er das nachfolgende Frankreich als Anstifter der Religionskriege in Deutschland und beklagt die falsche Rolle Österreichs als Verteidiger der katholischen Religion.

Die skizzierte Geschichtssynthese sei der Anlaß gewesen zur Erfindung der mittelalterlichen Quellen, also der Urkunden, Inschriften, Münzen, usw.

Zum ersten Mal fällt der Name der Bollandisten, also Mabillon und Papenbroch.

Das (literarische) Mittelalter sei in einer Werkstätte geschaffen worden, mit zahllosen Abschriften, vor und nach der Erfindung des Buchdrucks. – Und nachher seien die Quellensammler wie Muratori gekommen, welche diese Betrügereien weiter verbreitet hätten.

Hierauf kommt eine zentrale Feststellung: Er (Müller) wage zu behaupten, daß alle sogenannten klassischen Schriftsteller der griechischen und lateinischen Sprache gedungene Erzeugnisse aus jüngerer Zeit seien und nicht in die Zeiten gehörten, denen sie zugerechnet werden.

Wie alle seine Behauptungen unterlegt der Autor diese durch ausgiebige Zitate der antiken Autoren.

Hierauf kommt Müller zu einem zentralen Thema der Geschichts- und Chronologiekritik, den Kennzeichen der unechten Geschichte. (30)

Die erfundene Geschichte, verschenkt, vererbt, verkauft, erobert und verteilt fortlaufend Länder und Völker, die vorher zusammen gewesen seien.

Die falsche Geschichte lügt, zerteilt, erfindet Ränke und Schandtaten, vertauscht Wahres mit Falschem und sät Zwietracht.

Als bisher anerkannte Fälschungen zählt Müller die Dekretalien des Isidor und die meisten Urkunden auf. Schon Hardouin habe festgestellt, daß die letzteren Dokumente unterschoben seien.

Die hauptsächlichen Fälscherwerkstätten sind nach Müller Monte Cassino und Saint-Denis gewesen – aber neben vielen anderen. – Und der Autor mutmaßt, daß diese Fälschungen bis in jüngere, in seine Zeit reichten.

Danach zählt Müller die verschiedenen Kunstgriffe der Fälscher auf. (38 ff.)

Die Fälscher stellen sich als gleichzeitig dar und erdichten Verhältnisse. – Beispielsweise behauptet Cassiodor, Staatssekretär von Theoderich dem Grossen in Italien gewesen zu sein.

Die Fälscher geben sich als Mitglieder eines Volkes aus, dem sie nicht angehörten. – Beispielsweise sei die Goldene Bulle von Karl IV. von der Sprache her deutlich aus Frankreich stammend.

Die Fälscher berichtigen Lücken der anderen, schaffen aber eigene und überspringen dafür andere Zeiträume. – Ein Paradebeispiel dafür sind die fehlenden Bücher im Geschichtswerk von Titus Livius.

Die Fälscher vermeiden für die behandelten Zeiten eine genaue Zeitbestimmung. – Für Müller ist hier zum Beispiel des Geschichtswerk von Vellejus Paterculus ein gutes Beispiel.

 Die Fälscher fügen regelmäßig Naturereignisse wie Erdbeben, Sonnenfinsternisse, Himmelserscheinungen und ähnliches ein, um den Eindruck von Authentizität zu erwecken.

Die Fälscher fügen absichtliche Widersprüche ein. – Als Beispiel zitiert Müller den Hieronymus: Dieser kritisiert die Lektüre von Vergil, weil ihm angeblich die Engel schon wegen dem Lesen von Cicero Vorwürfe gemacht hätten.

Oder es wird in einer Urkunde von 798 Karl ein Imperator genannt – wo er doch erst zwei Jahre später den Kaisertitel bekommen hat.

Oder Lothar von Supplinburg heißt manchmal der Zweite, manchmal auch der Dritte. – Germanien soll ein Königtum, Italien dagegen ein Kaiserreich gewesen sein: Doch weshalb durften nur die deutschen Fürsten einen Kaiser wählen?

Gegenseitiges Beschimpfen und Widerlegen ist nach Müller ein weiteres Indiz für die Fälschungsabsicht.

Die Fälscher erklären Freunde zu Feinden und umgekehrt.

Die Geschichte der Stadt Rom bekommt bei Müller ein besonderes Augenmerk – lange vor Ferdinand Gregorovius. Hier arbeitet der Autor die Widersprüche über die Anfänge und die Bestimmung der Stadt heraus: Wie konnte Rom groß werden, wenn es zuerst nur klein und unbedeutend war?

Und die vielen Prachtbauten des antiken Roms lassen Müller zweifeln, ob sie die Entstehung haben, welche ihnen die Geschichte zulegt.

Ebenso artikuliert Müller den Umstand, daß viele römische Kaiser nicht in Rom, sondern außerhalb von Italien, etwa in Lyon (Caracalla, Geta. Claudius) geboren wurden, daß überhaupt das untere Rhonetal, also Lyon, Arles, Nîmes und Marseille eine offenbar größere Rolle in der römischen Geschichte spielen.

Und die vielen Zerstörungen Roms, von Alarich bis Alboin, scheinen der Stadt nicht viel geschadet zu haben.

Müller kommt zu den Päpsten. Hier erstaunt ihn, daß vor dem 16. Jahrhundert offenbar kein einziges papales Denkmal überliefert ist – nach 1500 Jahren Anwesenheit. – Sogar San Giovanni in Laterano ist älter als die Peterskirche.

Hier kommt Müller der Gedanke, daß Julius Caesar nicht in die Zeit gehört, in welche er gesetzt wird. Und da er den Gallischen Krieg ausgefochten hat, so mußte Gallien ursprünglicher Teil des Römischen Reichs gewesen sein. Die genannten Städte wie Nîmes, Vienne und Arles wären also die ursprünglichen Hauptstädte gewesen.

Das Römerreich ist nach Müller nicht von einer Hauptstadt, sondern von Fürstenhöfen und Pfalzen aus verwaltet worden, die überall im Reiche zur Verfügung standen.

Rom, Pfalz (Valencia, Valence, Palatin), Ruhm seien deutsche Namen. – Hier scheinen Müllers Anschauungen von der Ursprache durch.

Die Lingua latina habe sich nach Müller vom Deutschen abgespalten. Das Urvolk sei Deutsch gewesen. – Also wird Schlegel viel zitiert.

Die Römer seien nach Müller nicht aus der deutschen Sprache und den deutschen Gewohnheiten gewichen. Deutschland oder Germanien war das Urreich.

Das römische Reich sei nach Müller jedoch von Anfang an zweigeteilt in ein West- und ein Ostreich gewesen. – Im Folgenden verliert sich der Autor in Erwägungen über die Reichszugehörigkeit und die Unterteilung Herrschaften und spätere Königreiche. – Sogar der Rheinbund wird bei den überlangen verfassungsrechtlichen Betrachtungen als aktuelles Beispiel herangezogen. (168)

Das Ostreich oder Österreich wird ebenfalls ausführlich in seiner Entwicklung geschildert.

Die Herzoge von Burgund, allen voran Karl der Kühne, hält Müller für die Stifter des Königtums Frankreich und Urerbe Österreichs. (228)

Kühn ist Müllers Behauptung, Byzanz sei ein verlorenes Ostreich von Österreich gewesen. – Dagegen sind wohl alle Kritiker einig, wenn Müller die byzantinische Kaiserreihe für ein unterschobenes Machwerk hält.

Ebenso originell ist eine andere Behauptung des Autors: Die Aeneis des Vergil schildere hauptsächlich deutsche Geschichte, vor allem die Trennung in Ost- und Westreich. – Julius Caesar und Aeneas seien dabei identisch; Caesar dabei als Empörer zu betrachten.

Die Geschichte von Aeneas wird weitschweifig analysiert und führt für Müller schließlich zu einem Vergleich mit Karl dem Grossen und wieder zur hochmittelalterlichen Geschichte des Deutschen Reichs und zum Hause Habsburg.

Gegen Schluß nimmt Müller die anfängliche Beweisführung wieder auf, wonach die klassischen Schriftsteller nicht in die Zeiten gehören, welchen sie zugerechnet werden. – Hier wählt der Autor auch materielle Beweise, zum Beispiel die Erwähnung von Uhren und sogar von Geschützen (467 ff.).

Am Schluß fordert Müller in einem pathetischen Aufruf: Landsleute! Lernt eure Geschichte, sie ist die Geschichte der Welt (498).

Es geht weiter mit den Losungen: Friede auf Erden allen Menschen, Freundschaft den Briten, allen Deutschen Eintracht, Glück und Heil dem edelsten Erbe des Urthrones, Franz II. und reicher Segen dem Welttage (Kongreß) zu Wien.

Zusammenfassend läßt sich sagen:  F.J.P. Müller ist ein großer Kenner der klassischen lateinischen Literatur und der deutschen Geschichte. Er analysiert die Überlieferungen, statt sie bloß wiederzugeben. In der zeitlichen Verkürzung sucht er seine These von dem deutschen Urvolk, dem deutschen Urreich und der deutschen Ursprache zu belegen.

Als Autor am Ende der napoleonischen Zeit 1814 erhofft sich Müller von Österreich eine Wiederherstellung des angeblichen germanischen Reiches.

Müller beginnt mit Geschichts- und Chronologiekritik. Aber im Laufe seiner historischen Betrachtungen verwandelt sich seine Ansicht der Geschichte in eine Begründung für seine Thesen vom deutschen Urvolk und dessen Wiederherstellung in einem neuen Europa unter österreichischer Führung.

Vielleicht deshalb, weil er mit seiner romantischen Vorstellung vom ursprünglichen deutschen Volk, Reich und der Sprache übertrieben hat, wurden Müllers Verdienste als Geschichts- und Chronologiekritiker, als Kritiker der klassischen griechisch-römischen Literatur nicht wahrgenommen. Der Autor selbst geriet in Vergessenheit.

Doch auch wenn man mit der Deutschtümelei von Müller nicht einverstanden ist: Der Reichtum an Zitaten und Hinweisen lohnt allein eine genaue Durchsicht des Werkes.

Die Kritik an den angeblich antiken griechisch-römischen Klassikern nimmt Robert Baldauf (um 1900) vorweg. - Doch hinter diesem unbekannten Namen verbirgt sich der Altphilologe Friedrich Nietzsche.

Und last but not least: Müllers Urkundenkritik nimmt in Einzelheiten diejenige von Wilhelm Kammeier im 20. Jahrhundert voraus.

Mit dem Hinweis auf technische Errungenschaften als Indizien für eine Verjüngung der Antike und des Mittelalters  trifft sich Müller auch mit den neueren russischen Chronologiekritikern wie A. Fomenko.

Ein Vorwurf muß auf P.F.J. Müller bestehen bleiben: Wie ist es möglich, die alte Geschichte zu verwerfen und gleichzeitig eine detaillierte Rekonstruktion der Vorgeschichte zu beschreiben? 

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2014-11-16/12.5.2021