Die größte Fälschung in der Geschichte der Menschheit ist die Geschichte der Menschheit", so der Mathematiker und Geschichtsanalytiker Eugen Gabowitsch. Mit dieser Ansicht steht er nicht allein. Eine Schar Kritiker hat sich aufgemacht, unser modernes Geschichtsbild zurechtzurücken. Ihre kühne These: Große Teile der "Historie"' entstanden erst zu Beginn der Renaissance und im Barock: In jener Zeit wurde das Altertum und das Mittelalter erfunden: Urkunden wurden aufgesetzt, Abschriften erstellt, Ereignisse rückdatiert. Wie, wann und aus welchen Motiven, erfahren Sie in diesem Beitrag.


Vorbemerkung

Der vorliegende Text ist eine Bearbeitung des Autors eines Artikels, der in der Zeitschrift ZEITGEIST, 2004, 1, Seite 20 -23 erschienen ist. - Die Publikation auf dieser Webseite erfolgte im Einverständnis mit dem inzwischen verstorbenen Autor.


Der Autor hat unterdessen seine eigenen Ansichten zur Geschichts- und Chronologiekritik veröffentlicht:

Manifest der Geschichts- und Chronologiekritik (2016)


Eugen Gabowitsch (1938 - 2009)

Das Altertum – eine Erfindung der Renaissance?


Vgl. auch die Rezension des Buches von Eugen Gabowitsch:

Die Geschichte auf dem Prüfstand

Startseite:

www.dillum.ch


Ansicht der Akropolis auf einer Photographie von ca. 1865, vom Autor koloriert

Der berühmte "antike" Hügel hatte damals noch ein teilweise anderes Aussehen: Vor allem stand in den Propyläen noch der mächtige sogenannte Frankenturm, den Schliemann in den 1870er Jahren als "unantik" abreißen ließ.


Der berühmte Parthenon auf der Akropolis von Athen

Wurde das Bauwerk als heidnischer Tempel in der "Antike" oder als christliche Kathedrale im "Mittelalter" erbaut?

Nach Ansicht von CP ist der Parthenon vielleicht vor etwa 300 Jahren errichtet worden.  - Ebenfalls sind die im Text unten genannten Datumsangaben auf diesen Zeithorizont zurückzunehmen.

Abbildung aus: Lambert Schneider: Die Akropolis von Athen; Darmstadt 2001, S. 7


Geschichte wird uns an den Hochschulen im Allgemeinen als Faktum präsentiert: So und nicht anders ist es früher gewesen. Wir lernen, daß es verschiedene Epochen gab: die Vorzeit, das Altertum, das Mittelalter und schließlich die Neuzeit, in der wir heute leben und die in etwa mit der Renaissance (französisch: Wiedergeburt, gemeint ist die Wiedergeburt der Antike) begann. Es herrscht der Glaube vor, man wisse bestens Bescheid über vergangene Geschehnisse und deren zeitliche Abfolge. Gut, die Übergänge stehen nicht genau fest, und auch einige Lücken wie "Dunkle Zeitalter" (z.B. in der griechischen Antike oder im Mittelalter) gesteht man sich zu. Tatsächlich steht das Wissen um unsere Geschichtsschreibung jedoch auf gänzlich unsicherem Grund. Denn Historiker sind in erster Linie Philologen, die Analysen historischer Texte durchführen. Archäologie wird von ihnen bloß als Hilfswissenschaft betrachtet. Mit anderen Worten: Die heute gelehrte Geschichte beschreibt nicht die Vergangenheit selbst, sondern lediglich unsere Vorstellung davon.

Untersucht man z. B. überlieferte Quellen des Mittelalters, stellt man erstaunt fest, daß damals überhaupt noch nichts über das Altertum bekannt war. Keine Urkunde, kein literarisches Kunstwerk belegte die Existenz der so genannten klassischen Antike. Dies läßt die ketzerische Frage aufkommen, ob es überhaupt jemals die klassische Antike gab oder ob sie eine Erfindung der Renaissance ist, die dann von Schöngeistern des 18. und Professoren des 19. Jh. in die uns heute bekannte Form gebracht wurde. Sind dann Alexander der Große, Hannibal, Julius Cäsar, aber auch Karl der Große oder Iwan der Schreckliche womöglich nur Sagen-Gestalten? Und wie verhält es sich mit der Einteilung nach Epochen? Sind sie überhaupt gerechtfertigt oder nur Fiktionen der neueren Geschichtsschreibung?

Tatsache ist, daß die Chronologisierung unserer Vergangenheit erst im 18. Jh. begann. In diese Zeit fällt auch die Veröffentlichung des Buchs der Chroniken von Hartmann Schedel (auch als Weltchronik bezeichnet). Es war die erste deutschsprachige Abfassung über Geschichte und Geographie und entwickelte sich zum Standardwerk, das über lange Zeit hinweg von sehr vielen gelesen wurde. Die Niederschrift enthielt jedoch noch keinerlei Zeitrechnung im heutigen Sinne, sprich die Zuordnung einzelner Ereignisse zu konkreten Jahreszahlen. Die ganze Geschichte wird vielmehr in nur wenige Zeitalter unterteilt. Es fehlte zu seiner Zeit noch die Grundlage für eine durchgängige Datierung: Die Anno-Domini-Jahrzählung ist später entstanden.

Die heutige Sichtweise unserer Vergangenheit stammt von dem Hugenotten Joseph Justus Scaliger (angeblich: 1540-1609). Der Erfinder der durchgehenden Chronologie galt als einer der bedeutendsten Geister. Er gab jeder Begebenheit aus der Bibel und der Antike erstmals ein genaues Datum. Seine ersten Zeittafeln veröffentlichte er im Jahr "1583".

Scaligers Chronologie wurde in der Folge von dem französischen Theologen und Jesuiten Denis Pétau, latinisiert Petavius ("1583-1652") etwas korrigiert. In der Version Pétaus wurde sie schließlich zur Grundlage der Weltgeschichte. Nachfolgende Generationen haben diese Chronologie auf andere Länder und Epochen ausgeweitet.

Zweifel an der Glaubwürdigkeit der zeitlichen Einordnungen Scaligers und Pétaus, aber auch an der kreierten Geschichte selbst, kamen schon sehr früh auf, setzten sich jedoch nicht durch. Auch der große Gelehrte Isaac Newton ("1643-1727") stellte sie in Frage. Er bediente sich dabei anderer historischer Quellen als Scaliger und erstellte eine eigene Chronologie, die um Jahrhunderte von der Scaligers abwich. Newton zeigte dadurch, daß eine einheitliche Chronologisierung unmöglich ist. Die von Historikern benutzten Quellentexte widersprachen einander oft und konnten daher keine Grundlage einer begründeten und verläßlichen Zeitrechnung darstellen.

Die moderne Geschichtsforschung entzog sich dem Dilemma, indem eine Übereinkunft getroffen wurde, welche Zeugnisse und Textpassagen als authentisch zu gelten haben und welche nicht. Die dabei entstehenden Widersprüche ignorierte man schlicht.

Ein Zeitgenosse Newtons war es, der den Mut aufbrachte, öffentlich zu erklären, die Geschichte des Altertums sei vollständig erfunden worden und die so genannte antike Kultur habe niemals so bestanden, wie wir es heute annehmen. Der Mann hieß Jean Hardouin (angeblich "1646-1729") und war wie Pétau Jesuit und Theologe. Bereits in jungen Jahren wurde er als Kenner der alten Schriften zum Direktor der königlichen Bibliothek in Paris berufen. Später wurde er als Herausgeber aller katholischen Konzilienakten berühmt. Als angesehener Forscher konnte er die Archive und Bibliotheken vieler Klöster studieren. Für ihn war klar, daß die gesamte klassische Literatur der Antike im späten Mittelalter entstand. Spätere Versuche, die bestehende Chronologie in Frage zu stellen, konnten sich nicht durchsetzen, da die Erfindungen des Humanismus und der Renaissance bereits miteinander in Einklang gebracht worden waren und damals schon ein geschlossenes System bildeten.

Verschiedene kritische Historiker und Theologen des 19. Jh. widmeten sich dem Erdichtungsprozeß antiker Literatur in der Renaissance und meinten in einem italienischen Humanisten namens Poggio Bracciolini (angeblich "1380 - 1459"), der nicht nur päpstlicher Sekretär und Kanzler von Florenz, sondern auch Historiker war (Geschichte von Florenz in acht Bänden), einen der wichtigsten Geschichtserfinder auszumachen Die Germania des römischen Politikers und Historikers Tacitus (angeblich: "55 - 115 AD") gilt als Auftragswerk Poggios.

Der Theologieprofessor Edwin Johnson, ein Vertreter des Superkritizismus ging in seinem 1894 erschienenen Buch The Pauline Epistles sogar noch weiter. Seinen Erkenntnissen folgend, sollen die Bibel und dementsprechend auch das Christentum vor 1530 noch gar nicht existiert haben und das Neue Testament von Luther und Erasmus verfaßt worden sein.

Der Schweizer Philologe Robert Baldauf gelangte um 1900 - unabhängig von Hardouin und allen anderen - durch das Studium alter Manuskripte in seiner Schrift Historie und Kritik (1902) zu der Überzeugung, daß alle Zeugnisse des Altertums in Wirklichkeit von Schriftstellern der Renaissance stammen.

Heutzutage haben sich die Chronologiekritiker in zwei Lager gespalten. Radikale Revisionisten, wie z. B. der Urkundenforscher Wilhelm Kammeier (1895-1959) mit seinem Buch Die Fälschung der deutschen Geschichte; gehen davon aus, daß unser Blick nur selten über die Mitte des 17. Jh. zurückreicht. Die alte Zeit (von 1650 zurück bis 1350) könne man historisch nur äußerst vage überblicken. Von den historischen Geschehnissen in der Zeit von 1350 zurück bis etwa 1000 n. Chr. gebe es kaum Anhaltspunkte, weil eine planetenumgreifende Katastrophe in der Mitte des 14. Jahrhunderts, wie einige Radikalkritiker argumentieren, die davor existierenden Zivilisationen zerstört hätte. Über die prähistorische Vergangenheit der Menschheit wisse man deshalb so gut wie gar nichts, Gemäßigte Kritiker, lassen die Geschichtsschreibung ab etwa 1000 n. Chr. unangetastet und bewahren damit den Hochschul-Historikern manche ihrer heiligen Kühe.

Über den tatsächlichen Auslöser der globalen Katastrophe zu Beginn des Hochmittelalters kann heute nur spekuliert werden (möglicherweise der Einschlag eines größeren Meteoriten). Die Kritiker gehen davon aus, daß sie den ganzen Erdball erfaßte, als Sintflut in die Thora Eingang fand und in unseren Breiten als große Mandränke überliefert wurde. Das Ausmaß der Folgen ist bekannt, z.B. die nachhaltige Klimaverschlechterung, die unter anderem eine Verschiebung der Weinanbaugebiete vom südlichen Skandinavien bis nach Süddeutschland und das Ende des Getreidewachstums auf den Britischen Inseln bewirkte, oder die Entstehung der Wattenmeere in den Niederlanden und im Norden Deutschlands, die Unterbrechung der Seefahrt, starke Erdbeben in der Alpenregion, aber auch in Form des schwarzen Todes, dem Massensterben der Bevölkerung Europas (von Historikern häufig vereinfachend als Pest erklärt). Nahezu alle mittelalterlichen Städte wurden damals zerstört und mußten neu aufgebaut werden (darum gibt es so viele Neue Märkte in alten Städten).

Die wirtschaftlich und psychologisch bedingten Zwänge nach der Katastrophe sollen auch der direkte Anstoß zur Entstehung der Geschichtsschreibung und zur Bildung der großen Weltreligionen im heutigen Sinne gewesen sein. Zwischen den Anfängen von Judentum und Christentum liegen keine tausend Jahre, schreibt der Berliner Sachbuchautor Uwe Topper in seinem neuesten Werk Zeitfälschung. Beide Religionen, ebenso wie der Islam, seien erst im 15. Jh. in ihren Frühformen entstanden und in den folgenden 200 Jahren zur Reife gelangt. Zahlreiche mittelalterliche Urkunden und Chroniken entpuppten sich als Massenware der Schreibstuben in den Mönchsklöstern der Renaissance. Die Werke der Kirchenväter seien in der gleichen Zeit als Apokryphen verfaßt worden. Ähnliches gelte für die Autoren der Antike, die frühen deutschen Dichter oder auch alte Bibelhandschriften: Sie allesamt seien Schöpfungen von Humanisten und erst nachträglich in die graue Vorzeit verschoben und fiktiven Autoren eines ebenso fiktiven  Altertums zugeschrieben worden.

Doch weshalb sollten sich weltliche Schreiber und Mönchsorden diese ganze Mühe gemacht haben? Als wichtigstes Motiv sehen die Chronologiekritiker machtpolitische Ansprüche. Denn derjenige, der seine Abstammung auf bedeutende Monarchen, wie zum Beispiel Karl den Großen, zurückführen konnte, hatte Einfluß und Anrecht auf Privilegien. Die Beweggründe für die kirchliche Geschichtsschreibung waren für Uwe Topper von klugem Verstand und weitblickender Absicht getragen. Er hält die Niederschrift der antiken Literatur durch unsere Mönche für einen schöpferischen Vorgang, der sowohl in seinem Ablauf wie auch in seinen Auswirkungen nirgendwo seinesgleichen finde. Denn mit der Erfindung eines Jahrhunderte langen christlichen Märtyrer-Mythos gelang es der Kirche nicht nur, die Grausamkeiten der Inquisition zu rechtfertigen. Das geistige Arsenal im Himmel versammelter Märtyrer brachte auch Geld und Gut ein und schaffte Möglichkeiten der Manipulation. Die Gebeine der vielen ermordeten Christen dienten als Beweis dafür, daß es einmal eine sehr große Volkskirche gab, die nicht auszurotten war. Mit den Reliquien konnte überdies ein ausgedehnter Kult betrieben werden, der sich zu einem bedeutenden Wirtschaftszweig entwickelte. Das vielleicht wichtigste Motiv für die Geschichtserfindung war wohl eine gewisse Eigendynamik des Zeitgeistes, die aus dem Streben der intellektuellen Schreiber nach Anerkennung durch die Herrschenden resultierte.

Dafür, daß es sich bei den riesigen Zeiträumen des frühen Mittelalters und der Antike wohl in Wirklichkeit um Leerzeiten handelt, sprechen auch Studien aus Rußland. Dort wird schon seit der Zarenzeit am Problem der Geschichtserfindung geforscht. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts veröffentlichte der russische Universalgelehrte Nikolaus Morosov (1854-1946) seine mehrbändige Geschichte der menschlichen Kultur in naturwissenschaftlichen Beleuchtung. Als Theoretiker des Terrors saß Morosov, der sich der Verwandtschaft mit Peter I. rühmte, 25 Jahre in zaristischen Gefängnissen ein. Unter Lenin wurde er zur Symbolfigur der Russischen Revolution und durfte seine ketzerischen Werke deshalb noch in der erzkonservativen Stalinära verlegen. Er kam in seinen Forschungen zu dem Schluß, daß die erste monotheistische Religion der Welt in der Nähe des Vulkans Vesuv entstand und nicht in der Sinai-Wüste. Die mesopotamische sowie die altchinesische Geschichte plazierte er ins Spätmittelalter.

Morosov stellte dabei detaillierte Berechnungen bezüglich der astronomischen Überlieferungen aus alten Texten, Sternenkatalogen und Horoskopen an, Solche Rückrechnungen hatte seinerzeit auch Pétau durchgeführt. Letzterer versuchte jedoch stets, die vorgegebenen Daten durch überlieferte kosmische Geschehnisse, wie Sonnen- oder Mondfinsternisse, zu stützen. Dies jedoch zu Lasten der Genauigkeit: Er unterschied beispielsweise nicht zwischen totalen und partiellen Finsternissen. So fiel es Petavius leicht, seine Annahmen zu untermauern. Der russische Forscher ging anders vor. Sein Ansatz war: Vergiß die herrschende Chronologie und überprüfe wertfrei alle astronomischen Ereignisse, die der historischen Beschreibung in allen Details tatsächlich entsprechen. Es zeigte sich, daß sich die "historischen Ereignisse" um Hunderte bis Tausende von Jahren verjüngten.

Doch Morosov ging noch weiter. Er verglich die Längen der Herrschaftsdauer verschiedener Kaiser, Könige und anderer Potentaten aus verschiedenen Epochen und Ländern sowie deren Reihenfolge innerhalb der Dynastien. Überraschenderweise stieß er auf 15 nacheinander regierende Herrscher aus dem Hause Habsburg. Es schien als hätten sie in mindestens drei Fällen als Kopiervorlage für andere Königshäuser im In- und Ausland gedient, Es wurden einfach die Namen und biographischen Beschreibungen geändert.

Der führende russische Mathematiker Anatolij Fomenko machte sich Jahrzehnte später daran, die Erkenntnisse Morosovs zu überprüfen. Fomenko setzte für die Analyse des historischen Datenmaterials erstmals Computer ein. Dazu speiste er den Rechner der Universität Moskau mit Informationen aus zahlreichen Ländern der alten Welt, verglich sie miteinander und entdeckte zwanzig weitere Übereinstimmungen. Sogar in so weit entfernten Ländern wie Armenien oder China sollen die Habsburger als Kirchenoberhäupter (Katholikos) oder Kaiser vorkommen.

Nach Fomenkos weiteren umfangreichen Untersuchungen, die bereits ein Dutzend Bücher füllen, sind alle Epochen vor der Habsburgerzeit des 17. Jahrhunderts völlig unglaubwürdig, Die Herrscherzeiten der Dynastien des Römischen Reichs von der Gründung der Stadt Rom (laut herrschender Chronologie um 753 v. Chr.) bis zum Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation (am Ende der Hohenstaufen) erscheinen anhand seiner exakten statistischen Vergleiche als Duplikate des Habsburger Herrschergeschlechts von "1273" bis zum Dreissigjährigen Krieg. Wie läßt sich das erklären?

Es war die Erfindung des Buchdrucks (angeblich etwa um 1460, tatsächlich wohl erst um 1730) und dessen Verbreitung (lange Zeit überwiegend im deutschen Sprachraum), die wesentlich dazu beigetragen haben dürfte, die Habsburger Chronologien im Herzen Europas bekannt zu machen. Vermutlich wurde irgendwann in der Mitte des 18. Jh. eine Dynastie-Beschreibung der österreichischen Habsburger von Rudolf bis Ferdinand veröffentlicht, die nicht nur spannende Geschichten aus der Vergangenheit präsentierte, sondern erstmals auch Jahrzahlen. Schriftsteller aller Herren Länder waren fasziniert und nahmen diese erste chronologisierte Darstellung als Grundlage für die Erfindung eigener geschichtlicher Ursprünge. Nach Fomenkos akribischer Analyse sind oft nicht nur die Herrschaftsdauer, sondern auch inhaltliche Eckpunkte aus den Biographien einzelner Machthaber auf kreative Weise ab- und umgeschrieben worden,

Es könnte sich damals folgendermaßen abgespielt haben: Die Herrschenden und die Kirchenoberhäupter begannen, kistenweise historische Romane, die man dann als Geschichte verkaufte, in Auftrag zu geben. Es ging darum, eine möglichst glaubwürdige Vergangenheit zu schaffen. Dabei mußte vor allem darauf geachtet werden, daß die Quasi-Chronik bereits erschienenen Romanen nicht widersprach. Die Verfasser wurden reichlich entlohnt. Die Päpste, die erst im 18. Jahrhundert begonnen hatten, sich zu etablieren, wogen jedes Buch mit Gold auf. Jeder versuchte eine noch weiter reichende Geschichte zu erschaffen als die bereits niedergeschriebene. Ein richtiggehender Wettbewerb entbrannte. Die Werke fanden reißenden Absatz. Das goldene Zeitalter der Geschichtsschöpfung war eingeläutet.

Wie noch im 18. Jahrhundert Geschichte gemacht wurde, zeigt sich am Beispiel Katharinas der Großen (1729-1796). Wie der russische Universitätsprofessor Yaroslaw Kesler herausfand, fußten die militärischen Erfolge ihres Feldmarschalls Suworow auf der Vernichtung sämtlicher Einwohner belagerter Städte im polnisch-ukrainischen Gebiet, die es gewagt hatten, seiner Armee Widerstand zu leisten. Um sich der historischen Verantwortung zu entledigen, schrieb Katharina die schrecklichsten Untaten kurzerhand den wilden Horden tatarischer Mongolen im 13. Jh. zu. Für weniger grausame Belagerungen, bei denen Frauen und Kinder verschont wurden, mußte fortan Iwan der Schreckliche im 16. Jahrhundert herhalten, Lediglich Eroberungen, bei denen sich Städte freiwillig ergaben, findet man heute in den Annalen der ruhmreichen Zarin,

Bald wurde eine lange Geschichte zur Mode. Wer später kam, konnte sich jeweils eine längere Geschichte ausdenken: ein Vergangenheitsimperialismus, der bis in unsere Zeit fortgesetzt wird. Die deutsche Geschichte wurde erst im 18. Jh. aufgezeichnet, die russische und die chinesische im späten 18., die mesopotamische und die ägyptische im 19., die indische Chronologie sogar erst im 20. Jh. (und wird noch heute von der nationalistischen Regierung Indiens weiter geschrieben). Deshalb verfügen heute gerade die Letztgenannten über die vermeintlich ältesten Überlieferungen.

Auch die im Rahmen der Geschichtserfindung verwendeten Sprachen bedürfen einer Überprüfung. Latein, wie wir es heute kennen, ebenso wie andere klassische Sprachen des erfundenen Altertums (Altgriechisch, Hebräisch und Sanskrit), haben vor 400 Jahren noch gar nicht existiert. Sie alle sind als Kultursprachen wohl ebenso eine Schöpfung der Humanisten der Renaissance. Damit soll allerdings nicht die Echtheit aller alten ägyptischen, griechischen oder römischen Inschriften bezweifelt werden, sondern lediglich deren zeitliche Einordnung.

Einer der bekanntesten Befürworter der russischen Chronologiekritik ist der Diplomphilologe Garri Kasparow. Dem Schachweltmeister gelang es ebenfalls, zahlreiche Ungereimtheiten in der dargestellten Geschichte aufzuzeigen. Um der Geschichtserfindung auf die Schliche zu kommen, bedarf es nicht unbedingt leistungsfähiger Rechner. Oft genügt bereits ein Vergleich weniger Eckdaten in unseren Geschichtsbüchern.

Das Leben Alexanders des Großen (angeblich 356 - 323 v. Chr.) beispielsweise kennt man erst seit dem 18. Jh. Seine Geschichte weist eine erstaunliche Übereinstimmung mit der einiger aus Mazedonien stammenden osmanischen Sultane auf, die im Laufe der Zeit fast die halbe Welt eroberten. Die Landkarte dieser Unterjochungen hat eine verblüffende Ähnlichkeit mit jener des mythischen Alexanderreichs. Die Osmanen brauchten jedoch Zeit für ihre Eroberungen. Dem legendären Alexander fiel das alles (und darüber hinaus noch Persien, Afghanistan und Indien) in nur 13 Jahren Herrschaft in die Hände. - Papier ist geduldig.

Wie soll nun eine weit zurückliegende Kulturepoche datiert und eingeordnet werden, wenn plötzlich alles fragwürdig erscheint: Quellen, Traditionswege, Chronologie? Und wie stellt sich das neue Geschichtsbild vor unseren Augen dar? Während die konventionellen Historiker dogmatisch an der bestehenden Chronologie festhalten, geben sich die Geschichtsanalytiker bescheidener. Sie gestehen das Fehlen überprüfbarer Informationen sogar in der - aus heutiger Sicht - relativ nahen Vergangenheit ein.

Entscheiden Sie selbst, was Sie bevorzugen: eine knappe Abhandlung tatsächlicher Geschehnisse oder ein aufgeblasenes Modell virtueller Vergangenheit, das zu falschen Schlüssen für die Zukunft verleitet.


Zur Person des Autors

Eugen Gabowitsch, 1938 - 2009, war angewandter Mathematiker mit Forschungsschwerpunkt Algebra, mathematische Modelle und Umweltforschung. Der gebürtige Este promovierte 1969 in Leningrad, arbeitete dann in Tartu, Moskau, Amsterdam, Jülich und Karlsruhe als Dozent und Forscher. 1999 gründete er den Geschichtssalon in Karlsruhe (heute in Berlin). Zudem war er Herausgeber eines geschichtsanalytischen Online-Magazins und veröffentlichte zahlreiche Artikel über Geschichtskritik, chinesische Geschichte und frühgeschichtliche Technologien.

Der obige Artikel wurde nach dem Tod des Autors vom Betreiber in den Jahrzahlen dem heutigen Stand der Dinge angepasst.